Über 60 Jahre ist das Ende des zweiten Weltkrieges nun schon her, doch das Thema ist und bleibt immer wieder aktuell und das auch im Brettspielbereich. Wie immer stellt sich bei mir zunächst eine Art "schlechtes Gewissen" ein. Ein Kriegsspiel und ich interessiere mich dafür?! Finde es möglicherweise sogar gut! Ich denke über meine Gründe nach ein solches Spiel zu spielen oder zu mögen und komme schließlich zu dem Schluss kein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Mir geht es nicht um Kriegsverharmlosung oder -verherrlichung sondern einzig um den Spielspass, der sich bei mir bei strategischen Spielen, völlig unabhängig vom Thema, einstellt. Es müsste kein Kriegsthema sein. Würde es sich um ein Science Fiction oder Fantasy-Thema handeln wäre das für mich genauso gut.
Aber zurück zum Spiel. Konfliktsimulationen, sog. CoSims gibt es ja wie Sand am Meer, doch diese sind eigentlich in erster Linie für die ganz "Harten". Mit teilweise extremer Spieldauer und komplexesten Regeln versuchen sich viele erst gar nicht an solchen Spielen.
Aber das muss nicht sein. Memoir 44 mit angenehm kurzer Spieldauer und absolut überschaubaren Regeln ist da nur ein Beispiel. Tide of Iron befindet sich was Spieldauer und Komplexität angeht irgendwo dazwischen.
Wie in diesem Genre und bei Spielen von Fantasy Flight Games üblich ist Tide of Iron opulent und üppig ausgestattet. Das Regelheft ist übersichtlich und verschafft zunächst einen groben Überblick über das Spiel und den Ablauf um anschließend detailiert und mit vielen Beispielen auf die ganz genauen Regeln und Ausnahmen der einzelnen Spielaktionen und -möglichkeiten einzugehen. Wer Spiele von Fantasy Flight Games kennt, der weiß auch hier, was auf ihn zukommt.
Das Spiel ist szenariobasierend, die bis zu vier Mitspieler wählen also vor Spielbeginn eines der Szenarien aus und bereiten den Spielplan entsprechend der Szenarioanweisungen vor. Gespielt wird entweder auf der amerikanischen oder der deutschen Seite, so dass bei mehr als zwei Spielern in einem bzw. zwei Teams gespielt wird.
Sind die Seiten gewählt weiß jeder aufgrund der Szenariovorgaben auch wie er gewinnen kann. Manchmal sind Siegpunkte entscheidend, ein anderes mal muss eine der beiden Seiten eine gewisse Rundenzahl durchhalten usw.
Das Zusammenstellen der Einheiten zu sog. Squads (bis zu vier Einheiten auf einer Basis) und das Platzieren derselben auf dem Spielplan ist dann schon Bestandteil des Spiels. Ein Umstand der die Vorbereitungszeit für ein Szenario auf eine angenehm kurze Zeitspanne zusammen schrumpfen läßt und einem das Gefühl vermittelt schon während des Spielaufbaus zu spielen. Und das ist ja eigentlich auch so, denn schon hier können und sollten taktische und strategische Überlegungen einfließen.
Ein Runde läuft in drei Phasen ab, wobei Phase 1 auch gleich das Herzstück des Spiels ist. Hier werden abwechselnd (meist darf jeder drei Aktionen durchführen, bevor der Gegenspieler an die Reihe kommt) Einheiten aktivieren um mit ihnen Aktionen auszuführen. Einheiten können sich beispielsweise bewegen und/oder angreifen, wobei der Kampfwert bei vorangegangener Bewegung nur die aufgerundete Hälfte des normalen Wertes dieser Einheit beträgt. Jede Einheit hat einen solchen Kampfwert und auch eine bestimmte Anzahl an Bewegungspunkten. Jede Geländeart erfordert unter Umständen eine andere Anzahl an Bewegungspunkten so "verbraucht" eine Einheit beispielsweise 1 Bewegungspunkt auf freiem Gelände und 2 Bewegungspunkte im Wald usw.
Kämpfe unterliegen dann schon detailreicheren Regeln. Es gibt die Unterscheidung zwischen einem "normalen" Angriff (normal attack) oder einer Art Sperrfeuer (supressive attack) welche unterschiedliche Kampfwerte für die angreifenden Einheiten bedeuten. Sichtkontakt (Line of Sight) muss gegeben sein. Höhenunterschiede, Geländetypen, Einheitenart, Befestigungen, Gebäude, Entfernungen, Kombinierte Angriffe mehrerer Einheiten (Unterstützung), Angriffe mit dem Ziel das angegriffene Feld zu besetzten (Assault), all das sind Dinge, die im Kampf berücksichtigt werden und reglementiert sind.
Einige Einheiten können auch in den "Op Fire"-Modus gebracht werden, was ihnen die Möglichkeit gibt feindliche Einheiten während deren Bewegung, also wenn eigentlich der Gegenspieler am Zug ist, zu beschießen.
Einige Strategiekarten können in dieser Phase aktiviert und ins Spiel gebracht werden. Welche Kartenstapel verwendet werden dürfen, gibt das Szenario vor. Während des Spiels werden diese dann nach und nach im sog. Hauptquartier-Bereich der jeweiligen Spieler (meist rechts neben dem Spielplan) offen ausgelegt und können kann durch den Einsatz von Kommandopunkten aktiviert und vor dem jeweiligen Spieler abgelegt werden, sofern der Effekt einer Karte länger anhält.
Auf alle Regelfeinheiten und -details einzugehen (z.B. Spezialfähigkeiten von Einheiten) würde hier eindeutig den Rahmen sprengen, wobei man sagen muss, dass alle Regeln eigentlich logisch und daher schnell zu merken sind.
Alle Einheiten, die aktiviert waren werden entsprechend mit einem Marker gekennzeichnet und sobald keine der Seiten mehr aktivierbare Einheiten hat ist diese Phase zu Ende.
In der zweiten Phase, der Command Phase wird geprüft, ob und welcher Spieler welche Objekte kontrolliert und dafür Kommandopunkte oder Siegpunkte erhält. Diese Kommandopunkte werden wie bereits erwähnt beispielsweise in der Phase 1 benötigt, um Strategiekarten zu aktivieren, können aber auch gleich in dieser Phase investiert werden, um die Initiative zu erhalten, d.h. in der kommenden Runde als erster an die Reihe zu kommen. Desweiteren können einige Strategiekarten nicht in Phase 1 sondern nur in dieser zweiten Phase aktiviert werden.
Die Siegpunkte werden, sofern Siegpunkte für den Spielsieg entscheidend sind, mit dem jeweiligen Spielermarker auf der Siegpunkteleiste festgehalten.
Phase 3 ist die Statusphase. Hier werden eine oder zwei neue Strategiekarten pro Spieler im Hauptquartierbereich verfügbar, alle Aktivierungstokens werden entfernt, Einheiten können, wie in der Phase 1, in den "Op Fire"-Modus gebracht werden, Squads im selben Feld ohne Spezialisierung können Einheiten austauschen, evtl. kommen durch das Szenario vorgesehene Verstärkungen ins Spiel und der Spielrundenanzeiger wird ein Feld weitergeschoben, bevor eine neue Runde mit der ersten Phase beginnt.
Nach zwei bis vier Stunden, je nach Szenario, steht der Sieger fest. Tide of Iron mag für CoSim-Erfahrende Spieler leichte Kost sein, für andere ist es schon recht komplex aber es scheint mir gut geeignet für beide! Gleiches gilt für die Spieldauer, die wohl etwas längerer ist als von anderen Brettspielen gewohnt, aber noch keinen Rahmen sprengt. Bei einem längeren Spieleabend sind durchaus zwei Szenarien oder noch ein anderes Spiel drin.
Wer sich am Thema stört, dem wird Tide of Iron nicht gefallen, alle anderen können eigentlich bedenkenlos zugreifen. Tide of Iron bietet reichlich Raum für Strategien, die erfolgversprechend sein könnten und ausprobiert werden wollen. Langzeitmotivation ist also kein Problem, genauso wie das Spielmaterial. Nur das Zusammenstellen der Squads, das Befestigen der Einheiten auf den Basen, ist nicht selten knifflig. Manchmal passt die Einheit super, ein anderes Mal sitzt sie so locker, dass sie fast herausfällt während sie wieder ein anderesmal nur mit Mühe zu befestigen ist.
Alles in Allem ist die mit Tide of Iron verbrachte Zeit jedenfalls nicht verschwendet und so manch einer wird die mitgelieferten Szenarien bald ausgereizt haben und sich Neues im Internet oder Erweiterungen besorgen.
Holger hat Tide of Iron (en) klassifiziert.
(ansehen)